
10.10.2023|
Interspezies-Knigge: Mit Tieren kommunizieren
Beim Stichwort Kommunikation denken die meisten an die Verständigung zwischen Menschen. Doch spätestens mit der immer grösseren Aufmerksamkeit in den Medien auf die Ausbreitung des menschlichen Lebensraums und den damit verbundenen Rückgang der Biodiversität ist auch für uns Städter:innen die Verstrickung mit nichtmenschlichen Lebewesen ein allgegenwärtiges Thema. Doch welche Etikette sollten wir bei der Kommunikation mit einem tierischen Gegenüber beachten?
Im Sommer traf ich beim Wandern eine Kuh, ich nenne sie Daisy. Meine Freundin und ich wollten gerade essen, da hörten wir das Bimmeln ihrer Glocke und Daisy stand neben uns. Neugierig inspizierte sie unsere Rucksäcke und schnüffelte am Futter, das meine Freundin für ihren Hund ausgelegt hatte. Daisy streckte die Zunge heraus und zog eine Grimasse – das Hundefutter schmeckte ihr nicht.
Auch uns beäugte Daisy intensiv. Wir waren bei ihrem Eintreffen bei Seite gesprungen, meine Freundin mit dem knurrenden Hund unter einen entfernten Baum und ich etwas näher auf eine Erhebung.
Daisy blickte mich mit herausfordernden Augen an. So, als ob sie sagen wollte: Na, hast du noch mehr zu bieten?
Ich sprach mit ihr und winkte. Das allerdings befriedigte sie nicht. Nach einer Weile entfernte sie sich einige Schritte vom Lager, drehte mir ihr Hinterteil zu, schied demonstrativ einen Kuhfladen aus, bevor sie sich auf ihren Weg machte.
Gemeinschaft mit allen Lebewesen
Gemäss dem Duden wurde das Verb kommunizieren im 18. Jahrhundert von lateinischen communis entlehnt. Es bedeutet «allen gemein». Mich fasziniert die Wortherkunft. Darin impliziert ist, dass das Sich-Mitteilen auch die Grundlage für Gemeinschaft bildet. Wem ich mich mitteile, in dessen Gemeinschaft bin ich.
Lange wurde diese Gemeinschaft nur auf andere Menschen bezogen. Spätestens aber seit wir uns im Anthropozän, dem Zeitalter des menschlichen Einflusses auf Klima und Erde, befinden, gehören dazu auch nichtmenschliche Lebewesen und unsere Umwelt.
Sich mit Respekt verständigen
Das Sich-Verständigen kann sich als problematisch herausstellen, wenn das Gegenüber ein Tier ist. Andere Spezies verfügen nämlich über andere Sinne und haben einen anderen Zugang zur Welt. So sind Kühe mit einem vomeronasalen Organ im Gaumen ausgestattet, das ihren Geruchssinn sehr empfindlich macht für Eindrücke, die Menschen gar nicht wahrnehmen. Das Hundefutter, zum Beispiel, erhält so betrachtet eine Bedeutung für Daisy, die ich nicht nachfühlen kann.
In seinem Buch An Immense World (2022) zeigt der Wissenschaftsjournalist Ed Yong auf, dass sich der menschliche Einfluss auf die Wahrnehmungswelten anderer Spezies immer weiter ausbreitet und plädiert für einen respektvollen Umgang.
Was genau bedeutet aber Respekt in diesem Zusammenhang? Und wie kann ich ihn kommunikativ vermitteln? Das sind schwierige Fragen und Missverständnisse sind vorprogrammiert. Wenn wir Menschen aber eine offene Haltung für andere Bedürfnisse einnehmen, können wir uns an einen Interspezies-Knigge herantasten.
Interspezies-Knigge
Zutaten für eine respektvolle Verständigung mit nichtmenschlichen Lebewesen sind:
1. Neugier: Durch vorsichtiges Beobachten der Körpersprache können wir die Motivation eines anderen Tieres ableiten. Oft, so auch im Falle von Daisy, begegnet uns auch das Gegenüber mit Neugier.
2. Respekt: Mein Gegenüber muss sich wahrgenommen und ernstgenommen fühlen. In dem ich Raum gebe und mich zurückhaltend verhalte, signalisiere ich ihm einen Handlungsspielraum.
3. Geduld: Andere Spezies sind mit einem anderen Tempo und anderen Sinnen unterwegs. Es ist wichtig, das Gegenüber nicht zu überfordern.
4. Nichtbedrohlichkeit: Nicht nur ich bin für das Tier eine potenzielle Bedrohung. Auch weitere Störfaktoren, wie ein sich näherndes Auto oder ein bellender Hund, können es erschrecken. Deshalb macht es Sinn, die Situation im Auge zu behalten und ein sicheres Umfeld zu schaffen.
5. Vertrauen: Wenn wir uns die Zeit nehmen und aus der Begegnung mehr als nur ein flüchtiger Kontakt wird, können wir über die Spezies-Grenzen hinweg Vertrauen aufbauen.
Reflexion
Seit der Wanderung habe ich viel über das Erlebnis mit Daisy nachgedacht. Die Begegnung zwischen den drei Spezies hätte einen anderen Ausgang nehmen können. Beispielsweise hätte Daisy anstatt vorsichtig zu schnüffeln, über unsere Habseligkeiten trampeln können, zumal sie das Hundefutter widerlich fand und ich ihr nicht die erhoffte Unterhaltung bot. Oder der Hund, der sich vor Kühen fürchtet, hätte Daisy aggressiv anbellen können. Oder wir beiden Menschen hätten Daisys Neugier missverstehen und uns aus dem Staub machen können. Die nähere Begegnung hätte nie stattgefunden.
Stattdessen entstand ein Moment, in dem wir uns alle vier durch vorsichtige Blicke, behutsames Schnüffeln und gutgemeinte Worte aufeinander eingelassen haben. Am Schluss sind wir wohlwollend auseinandergegangen, auch wenn Daisy deutlich zu verstehen gab, dass dies ihr Revier ist. Ihr Kuhfladen war eine kleinere Provokation, aber durch das respektvolle Wegtreten vom Lager stelle ich es mir mehr wie ein schelmisches Grinsen oder ein Augenzwinkern unter Menschen vor. Wenn wir es also zulassen und uns auf die Kommunikation mit nichtmenschlichen Tieren einlassen, entsteht sogar die Möglichkeit für Humor.