26.02.2024 |
Kulturschock Tokio: Schweizer Umgangsformen unter der Lupe
Im japanischen Alltag ist klar festgelegt, wie sich wer gegenüber wem zu verhalten hat. Dieser Umgang regt mich zum Nachdenken an. Mein Aufenthalt im vergangenen Jahr war leider viel zu kurz, um mich an einer tiefergreifenden Analyse der japanischen Kommunikation zu versuchen. Die gesammelten Eindrücke helfen mir aber, über unsere helvetischen Eigenarten zu reflektieren.
Besonders zu Beginn meiner Reise durch Japan war mir die – aus meiner Sicht überspitzte – Höflichkeit der Menschen unangenehm. Wenn sich etwa der Ladenbesitzer mit Verbeugung und ausladenden Worten für meinen kauflosen Besuch bedankte, wollte ich bloss so schnell wie möglich verschwinden. Grosse Gesten der Dankbarkeit gehen auch eher schlecht mit dem schweizerischen Verständnis von Bescheidenheit einher. Ich stempelte das rasch als unnötige Nettigkeiten ab.
Dabei ist es nicht so, dass Schweizer:innen die Höflichkeit in der Kommunikation abgeht. Bereits in unseren Nachbarländern herrschen deutlich andere Sitten. Zu direkte Umgangsformen sind wohl das verbreitetste Fettnäpfchen bei Besuchen von ennet der Grenze. Egal ob Businessmail oder Bestellung im Restaurant – bei uns werden Anliegen im Konjunktiv formuliert. Sonst wäre es ja möglich, dass sich jemand vor den Kopf gestossen fühlen könnte. Ein Verhalten, das in anderen Kulturkreisen nicht immer auf Verständnis stösst.
Sagen, was Sache ist
Auch in der Schweiz haben Konversationen einen klaren Rahmen, der vorgibt, wie kommuniziert wird. Gespräche sind trotz der Fülle an Konjunktiven von Klarheit geprägt. Es wird meist gesagt, was Sache ist. Solange ich ein Anliegen freundlich und respektvoll formuliere, kann ich vieles offen ansprechen – ein pragmatischer Ansatz. In Japan musste ich hingegen von Zeit zu Zeit Worthülsen entschlüsseln oder Botschaften ableiten, da über gewisse Themen einfach nicht direkt gesprochen wird – ganz besonders nicht mit einem Fremden. Das war anstrengend, gerade weil ich mit dieser Welt weit weniger vertraut bin als mit der Schweiz.
Bei uns gibt es natürlich auch Tabus, aber kulturspezifische Codes kommen in meiner Wahrnehmung seltener vor. Zwischen den Zeilen zu lesen, muss auch hier gelernt sein, doch die Häufigkeit hält sich zum Glück in Grenzen. Das lässt sich selbstverständlich nicht pauschalisieren, aber während Gestik und Mimik auch für uns wichtig sind, wird explizierter formuliert.
Der Schweizer Weg
Nun stellt sich die Frage, ob die Schweiz eine bessere wäre, wenn wir mehr oder vielleicht auch weniger höflich oder direkt miteinander umgehen würden. Wenig überraschend bin ich als Schweizer ein Fan der hiesigen Umgangsformen. Ich finde, dass wir einen guten Mittelweg gefunden haben, der eine klare Kommunikation zulässt, jedoch stets Platz für einen Ausdruck von Respekt lässt.
Schlussendlich setzen formelle Faktoren zwar einen Rahmen, Interaktionen werden damit inhaltlich aber nicht zwingend freundlicher. Trotzdem ist dieser Rahmen nicht zu unterschätzen, da er klare Erwartungen an die Mindestanforderungen einer Unterhaltung setzt. Während mir die scheinbar übertriebene Höflichkeit in Japan zunächst wie ein Schauspiel vorkam, lernte ich sie mit der Zeit immer mehr zu schätzen. Als Zeichen des universalen Respektes für das Gegenüber, unabhängig vom Verhältnis. Solchen Gepflogenheiten muss Sorge getragen werden, sonst verwässern sie mit der Zeit. Unsere Schweizer Umgangsarten beinhalten selten grosse Gesten, haben sich aber als wichtiger Teil der Kultur bewährt – und sollten auch entsprechend geschätzt und gepflegt werden.